
Breslau - Schlesien: Ein (Zeit)Zeugenbericht
Roadtrip in die Vergangenheit
Es ist ein sonniger Tag im Spätsommer. Ein warmer Wind weht durch das geöffnete Autofenster. Die Schatten der schlanken Fichten am Straßenrand zeichnen ein flimmerndes Zebramuster auf die schmale Landstraße. Und doch fröstelt es mich. Dies ist keine Reise, kein Roadtrip wie jeder andere. Es ist eine Reise, von der ich schon lange wusste, dass ich sie früher oder später antreten würde. Eine Reise in die Geschichte meiner Familie. Meine Geschichte.
Breslau - Was wäre wenn?
Am Nachmittag zuvor waren wir, nach vielen ellenlangen Baustellen und nach viel Verwunderung darüber, wie sauber, gar schön die polnischen Autobahnraststätten doch sind – man durfte sogar umsonst aufs Klo gehen! – in Breslau eingefahren. Freilich trägt die Stadt heute den für deutsche Zungen unaussprechlichen Namen Wrocław – zum Glück darf man beides sagen. Ich war schrecklich aufgeregt. Zum ersten Mal in Polen.
Unter einem strahlend blauen Himmel kam Breslau an diesem goldenen Septembertag daher wie aus dem Ei gepellt. Müde von der langen Fahrt schlenderten wir nur gemütlich durch den teuer restaurierten Stadtkern der früheren Hauptstadt Niederschlesiens. Wir standen auf dem Marktplatz – Rynek, wie die Polen ihn nennen – und staunten. Das Rathaus im gotischen Stil, inklusive astronomischer Uhr, wird umsäumt von mal verspielten, mal prunkvollen Häuserfassaden. Jugendstil, Barock und Renaissance in sämtlichen Pastellfarben des Regenbogens. Auf dem Platz standen Infotafeln. Bilder von Breslau aus dem Jahr 1945. Zerstörung in Schwarz-Weiß.


Während des Zweiten Weltkriegs galt Breslau lange als „Luftschutzkeller“ des Deutschen Reiches. Erst im Herbst 1944 flogen die Alliierten erste Luftangriffe. Doch dann ging es Schlag auf Schlag. Mit der Weichsel-Oder-Operation im Januar 1945 drang die Rote Armee schnell in Richtung Breslau vor. Erst am 20. Januar 1945 erteilte Karl Hanke, Gauleiter Niederschlesiens, den Befehl zur Evakuierung. Für viele kam er zu spät. Zum Zeitpunkt der Einkesselung der Festung Breslau durch die Rote Armee am 15. Februar befanden sich noch immer 150.000 Zivilisten im Stadtgebiet. Die Festung Breslau wurde bis zuletzt verteidigt. Ca. 70 % der Gebäude wurden zerstört.
Der 20. Januar 1945. Dieser Tag sollte die Geschichte meiner Familie neu schreiben.
Aus der Altstadt hinaus spazierten wir über die Dombrücke auf die Dominsel von Breslau. Gepflegtes Kopfsteinpflaster, blitzsaubere Fassaden. Die orange-roten Dächer der gotischen Johannes-Kathedrale und der Ägidiuskirche, die vermutlich um das Jahr 1120 errichtet wurde, leuchteten warm im Licht der nun tiefer stehenden Sonne. Die schmalen Straßen rund um die beiden Kirchen wirkten wie leer gefegt. Außer zwei Geistlichen in langen schwarzen Roben begegneten wir niemandem. Zu ruhig, zu perfekt. Am Abend suchten wir das echte Leben.


Schließlich beheimatet Breslau rund 140.000 Studenten! Wir aßen lecker im Restaurant „Konspira“ unweit des Marktplatzes. Ein alter Armee-Truck zierte den Biergarten und die Gäste wurden begrüßt durch ein grellrotes Wandbild, das Putin mit Hitlerbärtchen zeigte. Anschließend lümmelten wir in einer Studentenkneipe. Später tanzten wir zu Balkanbeats und „Russendisko“ in einer der vielen kostenfreien Diskotheken, die sich praktischerweise ziemlich genau gegenüber von unserem Hotel (Five Star Bed and Breakfast) an der Ruska-Straße befanden. Ich fühlte mich wohl. Die Stimmung war zwanglos und entspannt. Wir sprachen als Einzige Deutsch.
Nachts im Bett frage ich mich, wie es wohl wäre, wenn meine Urgroßeltern damals zurückgekehrt wären oder wenn es diesen verdammten Krieg nicht gegeben hätte. Hätte ich dann auch in Breslau studiert? Würde ich Polnisch sprechen? Gäbe es mich dann überhaupt?
Biskupice Oławskie - Verlorene Heimat
Der Fichtenwald lichtet sich, weicht schließlich hellgrünen Wiesen und Feldern. Wir passieren die ersten kleinen Ortschaften, die nur aus ein paar alten Häusern und Höfen entlang der Hauptstraße zu bestehen scheinen. Ortschaften, die wie ausgestorben wirken. Als wäre hier die Zeit stehen geblieben. Viele der alten Backstein-Gemäuer, die noch nicht dem Erdboden gleichgemacht wurden, um Platz für neue, moderne Wohnhäuser zu schaffen, scheinen unbewohnt, herrenlos.
Im kalten Januar 1945, als die Rote Armee schließlich bis zur Oder vordrang, flüchtete ein großer Teil der damals 4,5 Millionen Schlesier. Diejenigen, die nach Kriegsende in ihre Heimat zurückkehrten, wurden ab 1946 nach dem Ende der Potsdamer Konferenz endgültig vertrieben. Das zurückgebliebene Eigentum der Geflüchteten wurde per Dekret entschädigungslos vom polnischen Staat konfisziert. Ca. 3,25 Millionen Schlesier verloren ihre Heimat dadurch für immer – und viele von ihnen infolge von Krieg, Flucht und Vertreibung auch ihr Leben. Es wird angenommen, dass es sich dabei um ca. 13,8 % der schlesischen Gesamtbevölkerung handelte.
Wir passieren das sonnengelbe Ortsschild „Minkowice“. Ich steige auf die Bremse. Wir sind ohnehin das einzige Fahrzeug weit und breit. Ich deute auf einen ziemlich mitgenommen aussehenden, blassrosanen Kirchturm mit rostiger Zwiebelkuppel. „Das hier ist Minken. Hier wurde mein Opa getauft.“ Ich biege in ein schmales Gässchen links von der Hauptstraße ab. Eine Grundschulklasse quert die Straße. Es gibt also doch Leben hier draußen! Wir halten vor der Kirche. „Wegen Renovierung geschlossen“, steht auf einem gelben Warnschild. Zumindest vermute ich das, denn es ist auf Polnisch. „In Bischwitz gab es keine Kirche. Deshalb sind sie hierher gekommen“, gebe ich die Worte meines Großvaters wieder. Wir starren noch eine Weile auf die Kirche.

Meine Großeltern mütterlicherseits wurden 1939 in Schlesien geboren. Mein Opa als Einzelkind in Bischwitz – heute Biskupice Oławskie – im Landkreis Oława, als Sohn von Landwirten. Meine Oma im ehemaligen Landkreis Jauer, ein Stück weiter westlich von Breslau in der Nähe der Stadt Liegnitz (Legnica), als eine von drei Schwestern. Zum Beginn ihrer Flucht am 20. Januar 1945 waren beide fünf Jahre alt. Ich wuchs mit Erzählungen über Schlesien, die Flucht, den Krieg, „die Russen“, die Bauerei, die Nachkriegszeit auf. Hatte Schwarz-Weiß-Fotografien des Hofes meiner Urgroßeltern und meines Opas als pausbackigem Baby neben zwei kräftigen Kaltblütern gesehen. Hatte schließlich Geschichte studiert, um diesen Krieg wirklich zu verstehen, grausige Berichte aus erster Hand gelesen und Fotografien gesehen, die mir noch heute einen Schauer über den Rücken jagen. Nun, mit Mitte zwanzig, wurde es Zeit. Ich musste selbst sehen, woher wir kommen. Wie sollte ich sonst erkennen, wo ich hinwollte? Den Drang, nach Schlesien zu fahren, hatte ich schon lange. Nun war ich bereit.
Ich steuere meinen Opel Adam zurück auf die Hauptstraße und wir verlassen Minken. Ein weiterer, lichter Fichtenwald, ein weiteres gelbes Ortsschild: „Biskupice Oławskie“. In einer kleinen Parkbucht am Ortseingang bringe ich das Auto zum Stehen und hole die handgeschriebene A4-Karte aus der Mittelkonsole. Mein Opa hatte sie mir vor Abfahrt gegeben, damit ich den alten Hof auch finden würde. Hatten wir doch keine Ahnung, in welchem Zustand er heute war. Mein Opa hatte ihn zuletzt Anfang der 90er im Rahmen eines Schlesier-Treffens besucht. Auf der Karte ist jedes Gebäude entlang der Hauptstraße eingezeichnet, inklusive Nachnamen derer, die dort vor 1945 gelebt hatten. Viele der Namen kenne ich.
Yannik schaut mich prüfend von der Seite an. Ich bin schrecklich aufgeregt, weiß nicht, wie ich meine Empfindungen in Worte fassen soll. „Wir müssen nur der Hauptstraße folgen. Laut der Karte ist der Hof am Ortsausgang auf der rechten Seite in einer Kurve.“ Bischwitz wirkt genauso verlassen wie die Dörfer zuvor. Allerdings gibt es mittlerweile eine hübsche kleine Kirche. Viele der alten Höfe entlang der Straße waren mittlerweile durch moderne Wohnhäuser mit angelegten Gärten ersetzt worden. Nur hier und da standen noch alte Scheunen und Stallgebäude. Halbverfallen, aus Backstein. Scheibenlose Fenster klaffen wie schwarze Wunden in den rostroten Wänden. Was würden uns diese Gemäuer erzählen, wenn sie sprechen könnten?
„Seit Tagen hörten wir schon die Luftangriffe der Alliierten in der Umgebung. Nachts haben wir die Explosionen und Tannenbäume der Flugzeuge gesehen. Für mich war das wie Feuerwerk gucken. Ich war ja noch Kind.“
Bevor wir nach Polen aufbrachen, hatte ich mir von meinem Opa noch einmal alles erzählen lassen, an das er sich erinnern konnte. Wie oft hatte ich das alles schon gehört? Und doch saß ich jedes Mal wie gebannt. Will jeden dieser kostbaren Momente festhalten, kann mir nicht vorstellen, diesen Geschichten irgendwann nicht mehr lauschen zu können. Nehme mir vor, sie eines Tages auch an meine Kinder weiterzugeben.
„Einmal, da hat sich ein Bomber zu uns verirrt. Wer weiß, ob das Absicht war. Der hat meinen Kindergarten beschossen. Meine Mutter hat mich an diesem Tag zu Hause behalten, als hätte sie es geahnt. Sonst wäre ich jetzt nicht hier.“
Britische und amerikanische Einheiten flogen von Juli bis Dezember 1944 regelmäßig Luftangriffe auf strategische Ziele in Schlesien. Die Region verlor damit ihren Status als „Luftschutzkeller des Reiches“. Unter Beschuss standen vor allem Betriebe in Deschowitz, Blechhammer und Kandrzin, die sich auf die Treibstoffproduktion spezialisiert hatten, aber auch wichtige Eisenbahnknoten, wie beispielsweise im nur eine Stunde entfernten Oppeln (Opole). Durch die Luftangriffe der Alliierten kamen in diesem Zeitraum wegen mangelnder Treffsicherheit in den umliegenden Dörfern etwa 650 Menschen ums Leben.
Eine Welt im Krieg
Wir nähern uns bereits dem Ortsausgang. Vor uns knickt die Straße nun nach links ab. Auf der rechten Straßenseite zeigt ein Schild in Richtung Bahnhof. Ich schaue auf die Karte. Hier ist es. Neben einem modernen weißen Haus, dessen Grundstück von hohen Zypressen umrandet wird, steht der Hof, den ich, solange ich denken kann, von alten, vergilbten Fotos kenne – der Hof, den meine Familie 1945 verlassen hat. Mir kommt alles seltsam bekannt vor. Das kleine weiße Auszugshaus meines Ur-Urgroßvaters, das wuchtige Wohnhaus aus Backstein auf der gegenüberliegenden Seite, der damals ganz neu gebaute Kuhstall. Verbunden wurden die Gebäude durch eine lange Scheune zu einem U.

In meiner Vorstellung befand sich in der Mitte des Hofes ein großer Misthaufen. Das Foto von meinem Opa mit den beiden Kaltblütern Fritz und Fuchs war dort geschossen worden. Andere Szenen zeigen ihn mit seinem polnischen Kindermädchen Ginja, meine Urgroßeltern – er in Latzhose und mit Glatze, sie mit strengem Dutt und Kittelschürze. Die vergilbten Fotoalben, die die Flucht überstanden hatten, beschreiben ein munteres Familienleben auf einem kleinen landwirtschaftlichen Betrieb. Die Gesichter der Älteren von harter Arbeit gezeichnet, Baby-Opa immer pausbäckig lächelnd inmitten von Tanten, Onkel und Cousinen.

Dann kam der Krieg. Die Namen der Onkel Max und Wilhelm finden sich heute auf Gedenktafeln an die Gefallenen des Zweiten Weltkriegs. Nicht in Bischwitz. Dort findet sich keine Erinnerung an die einstigen deutschen Bewohner.
Mein Uropa Oscar musste an die Ostfront. Nur knapp entging er Stalingrad und anschließender Kriegsgefangenschaft. Als Landwirt war er für die Pferde zuständig, die Vorräte und Munition schleppten. Das habe ihn am Ende gerettet, weil er nicht mitten im Getümmel gewesen sei. Mein Opa war ein Jahr alt, als er eingezogen wurde. Meine Uroma allein. Allein, mit einem Kleinkind, einem landwirtschaftlichen Betrieb, einer ungewissen Zukunft in einer Welt im Krieg.
Eine Welt im Krieg. Während ich diese Zeilen tippe, im Mai 2025 – achtzig Jahre nach Kriegsende, wie passend –, scheint unsere Zivilisation erneut in Chaos und Gewalt zu versinken. Haben wir nichts gelernt? Geschichten von Flucht, Vertreibung, den unmenschlichsten Gräueltaten sind heute so aktuell wie damals. Sinnloses Sterben, zerrissene Familien, verlorene Heimat. Und wir wagen uns zu urteilen? Grenzen zu schließen vor denen, die alles verloren haben, die unsere Hilfe brauchen? Wir haben nichts gelernt.
Heute wuchert Unkraut auf dem Grundstück, Unrat liegt herum, Bienen und andere Insekten schwirren munter umher. Die Gebäude verfallen. Es ist unmöglich zu sagen, ob der Hof bewohnt ist. Alles wirkt gespenstisch still. Nichts ist geblieben von dem munteren Treiben, das dort einst herrschte. Die Wärme des goldenen Herbsttages scheint auf meiner Haut zu gefrieren – ein letzter Hauch des Winters von 1945, der durch die Löcher in den Wänden der Gebäude streicht?
Auf der anderen Straßenseite mäht eine junge Frau den Rasen vor einem hübschen gelben Haus. Zwei kleine Kinder toben um sie herum. Die Zeit steht niemals still.
Die Flucht
„Nachts gingen die Sirenen los. Es war ein riesiges Durcheinander. Es war kalt. Die Mutter hatte schon seit Tagen das Wichtigste gepackt. Wir hatten ja den Plauwagen und die Pferde. Das war unser Glück. Wenn wir hinter die Front der Roten Armee gekommen wären, hätten wir schlecht ausgesehen. Mein Opa ist gefahren, die Frauen und wir Kinder saßen hinten im Wagen. Meine Cousine, die Rosi, die war noch Baby und hat immer in die Hosen gemacht. Uuuuh, das hat vielleicht gestunken. Ich hab immer gesagt: Schmeißt des Kind raus! Wir konnten kaum etwas mitnehmen. Nur das Allernötigste. Die Ginja, mein Kindermädchen, durfte nicht mit. Und sie wollte so sehr. Der Ortsbauernführer hat das verboten, weil sie Polin war. Ich weiß nicht, was aus ihr geworden ist.“ Schweigen. Wir malen uns wohl aus, was mit einer jungen Frau passierte, falls sie in die Hände der Roten Armee geriet. Vor allem, da sie für Deutsche gearbeitet hatte.
„Die ganzen Viecher sind auch dageblieben. Die Kühe mussten gemolken werden. Das werden die, die nach uns kamen, schon gemacht haben. Wir waren ja kaum weg, da sind die Flüchtlinge von weiter östlich schon bei uns eingefallen. Das habe ich damals nicht verstanden. Das war komisch, als auf einmal fremde Leute ins Haus kamen und in den Schränken nach Essen gesucht haben.“
Es gibt Zeitzeugenberichte aus der Ortschaft Wilkau (Wilków), die berichten, am Nachmittag des 20. Januar 1945 mit ihrem Treck in Bischwitz eingetroffen zu sein und das Dorf bereits verlassen vorgefunden zu haben. Man habe sich dort um das zurückgelassene Vieh gekümmert und sich an den Vorräten bedient. Für meinen Großvater war es vermutlich Glück, dass er damals erst fünf Jahre alt gewesen war und das Ausmaß dieser Ereignisse noch nicht begreifen konnte. Ich stelle mir die Hauptstraße an einem kalten, grauen Wintermorgen vor. Schneebedeckt, überfüllt mit Pferden, Plauwägen, Handkarren, Frauen und Kindern, die sich aufmachen ins Ungewisse.
Dachten sie, sie würden zurückkommen? Wussten sie, wie nah die Rote Armee war? Kannte man in Bischwitz überhaupt den tatsächlichen Kriegsverlauf? Was geschah mit denen, die keine Pferde hatten? Kam der Befehl zur Evakuierung für sie zu spät?
Fragen, deren Antworten wie Damoklesschwerter in der Luft hängen. Wie 1,6 Millionen weitere Schlesier floh die Familie meines Großvaters über das Riesengebirge nach Tschechien und anschließend nach Bayern.
„Das war schwer für die Pferde. Der Weg über die Berge. Viele haben das nicht geschafft. Die Wägen hatten keine Bremsen und bergab konnten die Pferde das nicht halten. Die Mutter und der Opa mussten dann Stöcke in die Speichen stecken und mitbremsen. Die haben sich dabei auch wehgetan. Die Mutter ist manchmal mitgeschleift worden, wenn die Pferde ins Rutschen gekommen sind. Die hat einfach nicht losgelassen. Das war schon ein Drama.“

Neue Heimat
Nur mühsam kann ich den Blick von dem alten Hof abwenden. Gleichzeitig weiß ich, dass ich kein weiteres Mal hierher zurückkehren werde. Geschichte ist Geschichte und muss Geschichte bleiben. Doch wird sie immer ein Teil von mir, ein Teil von uns sein. Meine Uroma wollte nie zurück nach Schlesien. Nicht einmal zu Besuch.
„In Tschechien wollten die uns nicht haben. Auch in Bayern waren wir nicht beliebt. Für die waren wir Polen, keine Deutschen. Wir sind bei Bauern untergekommen, die selbst nichts hatten. Die Mutter hat mich schon mit fünf in die Schule geschickt, weil sie arbeiten musste. Wo der Vater war, wussten wir ja immer noch nicht. Ob er noch lebt.“
Es grenzt an ein Wunder, dass mein Uropa Stalingrad unversehrt verlassen konnte und in dem Chaos, das nach Kriegsende in Deutschland herrschte, seine Familie wiederfand. Als er per Schiff in Hamburg ankam, wollte er zurück nach Schlesien. Nach fünf Jahren an der Ostfront kannte er weder den Verbleib seiner Heimat noch seiner Familie. Per Zufall erfuhr er von einem anderen Schlesier, dass seine Familie zusammen mit Tausenden weiteren in Bayern gestrandet war. Dass Schlesien, sein Hof in Bischwitz, nicht mehr deutsch war.

„Ich wollte den Vater die erste Zeit nicht. Ich kannte ihn ja nicht. Das war ein fremder Mann für mich. Dabei war er ein herzensguter Mensch. Der hat alles für mich gemacht, mir oft geholfen, wenn ich mal wieder Mist gebaut hatte, kein Geld hatte. Die Mutter war da strenger. Der Vater wollte nie, dass ich die Bauerei weiterführe. Zur Bundeswehr zu gehen, hat er mir strikt verboten. Da war er knallhart. So bin ich halt Elektriker geworden.“
Mit einigen anderen wurde die Familie meines Opas nach Hessen geschickt. Dort sollten sie einen Hof übernehmen und wieder Landwirtschaft betreiben, denn es fehlte an allem. Die beiden Kaltblüter Fritz und Fuchs waren nun Gold wert. Im wahrsten Sinne des Wortes. Mit ihnen konnten nicht nur die eigenen Felder bestellt werden, sondern mein Uropa konnte sich etwas dazuverdienen, indem er die beiden für Feld- oder Forstarbeiten verlieh. Ohne Pferde wäre die Flucht vermutlich anders verlaufen. Mein Opa hat sich seine Begeisterung für Pferde bis heute erhalten und an mich weitergegeben.
„Wir hatten schon Glück. Durch die Bauerei hatten wir wenigstens was zu essen. Geschlachtet haben wir heimlich in der Waschküche, wenn in der Wirtschaft nebenan Remmidemmi war. Trotzdem. Das waren harte Zeiten. Was wir hatten, reichte gerade so für uns. Ich musste selbst im Winter mit den Knickerbockern rumlaufen. Das war mir peinlich, so in die Schule zu gehen.“
Das Unausgesprochene
Langsam laufen wir durch Bischwitz zum Auto zurück. Keiner spricht etwas. Meine Kehle ist wie zugeschnürt. Ich ziehe meine khakifarbene Leinenbluse enger um meine Schultern. Das Bild des alten Hofes geht mir nicht aus dem Kopf, die Geschichten dröhnen in meinen Ohren. Offene Fragen, Unausgesprochenes beschleunigen meinen Puls.
Was hatten sie auf der Flucht alles erlebt? Wo genau war mein Uropa in Russland? Was hatte er dort getan? Es gab Dinge, über die sprachen wir nicht. Punkte in ihren Erzählungen, an denen meine Großeltern verstummten. Ich war nach Bischwitz, nach Polen gekommen, weil ich mir Antworten erhoffte, wissen wollte, warum manche Dinge in meiner Familie, manche Eigenarten so waren, wie sie waren. Wer ich war.
Den Ort aus dem Oma stammte, hatten wir nicht einmal gefunden. In ihrer Geschichte gibt es noch mehr Leerstellen, noch mehr Grauen. Eine junge Mutter flüchtet zu Fuß mit drei Töchtern vor der Roten Armee. Meine Oma und ihre Schwestern sprechen von Begegnungen mit russischen Soldaten, davon wie sie sich unter fremden Betten versteckten, wie meine Uroma sie in den Wald jagte, während sie sich „den Russen“ stellte. Unausgesprochenes.
Yannik steuert meinen Opel Adam aus dem Ort hinaus. Vorbei an Wiesen und Feldern zurück durch den Fichtenwald in Richtung Breslau. Ich bitte ihn, an einem schmalen Waldweg anzuhalten. Bin noch nicht bereit loszulassen. Bereit zu akzeptieren. Die Sonne senkt sich bereits in Richtung Horizont herab und taucht den Wald in sanft-orange-rotes Licht. Noch einmal gehen wir die gesamte Geschichte durch. „Weißt du, du kannst stolz sein“, sagt Yannik schließlich. „Die waren stark damals. Haben gekämpft, ein neues Leben aufgebaut. Du bist auch so.“ „Wenn ich nur halb so viel Mut hätte wie meine zwei Uromas, wäre ich schon zufrieden.“ Endlich weine ich.
Wir alle tragen Geschichten in uns. Geschichten, die uns prägen, die ausmachen, wer wir sind – ob wir es wollen oder nicht. Geschichten, die von unseren Urgroßeltern an unsere Großeltern, an unsere Eltern, an uns weitergetragen wurden. Geschichten, die größtenteils unausgesprochen bleiben. Und doch unser Leben bestimmen – oftmals ganz subtil. In den Wissenschaften existiert mittlerweile ein anerkannter Begriff dafür: transgenerationale Traumata. Demnach können Erfahrungen – auch unverarbeitete seelische Traumata – an nachfolgende Generationen weitergegeben werden. Der Begriff wird in der Forschung zumeist im Zusammenhang mit Holocaustüberlebenden, den Opfern sexualisierter Kriegsgewalt und „dem Erbe der Kriegskinder und -enkel“ gebraucht. Mittlerweile auch vermehrt in Verbindung mit Geflüchteten.
Gemeinsam haben sie alle eines: das Schweigen über das Erlebte. Vieles bleibt für immer unausgesprochen, was die Überwindung des Traumas verhindert. So können beispielsweise bei Nachfahren der Kriegsgeneration zugleich eine besondere Verletzlichkeit und Stressanfälligkeit, auf der anderen Seite aber auch eine starke Widerstandsfähigkeit festgestellt werden, die jeweils in verschiedenen Lebensabschnitten, in verschiedenen Situationen vorherrschen (Kellermann, 2011: Geerbtes Trauma. Die Konzeptualisierung der transgenerationellen Weitergabe von Traumata. In: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte. Band 39, S. 158–160, abgerufen am 25.4.2025.).
Die Sehnsucht, mehr zu wissen, die Sehnsucht, alles zu wissen, wird mich immer wieder nach Polen, immer wieder gen Osten treiben. Das, was von diesen Reisen bleibt, sind Stolz und Dankbarkeit – genauso wie das Wissen, dass das Schweigen nie ganz gebrochen werden kann.
Und jetzt seid ihr dran! Erzählt uns von euren Erfahrungen oder stellt uns Fragen!
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Wir freuen uns auf euch!
Ein ganz toller und ergreifender Bericht.