Allein-Reisen in Tallinn Estland

Tallinn und die Freiheit

Gedanken einer Alleinreisenden

Das erste Mal ganz alleine reisen. Mir selbst etwas beweisen. Allen anderen auch. Diesmal nicht kneifen, wie damals beim Schüleraustausch nach Italien. Diesmal nicht heulen, wie damals während des Sprachaufenthaltes in Kanada. Diesmal bin ich bereit. Stärker, älter, stolzer. Beim Abschied von Yannik am S-Bahnhof Hackescher Markt um vier Uhr morgens fließen trotzdem Tränen. Ich kann das nicht, hab ich gesagt. Aber ich bin in den Zug gestiegen. Und jetzt bin ich hier. In Tallinn, Estland. Wieder im Osten. Wieder in einem Teil der ehemaligen Sowjetunion, wieder an Russlands Grenze. Weiß mittlerweile, woher diese Faszination kommt, warum sie mich treibt. Bin ja auch gelernte Osteuropa-Historikerin. Quasi Berufskrankheit. Über Geschichte lernen, schreiben und allein sein. Sonst nichts müssen. Welch ein Privileg.

Eine Fotoausstellung besuchen im Fotografiska Tallinn. Machen wir sonst nie auf Reisen. In dunklen Räumen stehen und durch die Augen anderer sehen. Stille. Draußen regnet es. Vor mir Nahaufnahmen von Gesichtern. Von Gesichtern, in die man auf der Straße nicht schauen würde. Gangster, Prostituierte, Junkies. Jede Pore, jede Ader, jedes Härchen sichtbar. Schmerz, Verlust, Hass, der einen anstarrt. Jede und jeder auf seine eigene Weise schön. Kann nicht wegschauen. Wünsche mir, mit Yannik über die Fotos zu sprechen. Ich bin keine gute Fotografin. Er bevorzugt Landschaften. Kann stundenlang einen Wasserfall fotografieren, bis es perfekt ist. Weiß, dass ihn Porträts langweilen.

Sitze bei Cappuccino mit perfektem Milchschaumherz im Foyer des Ausstellungsgebäudes. Schreiben und Leute gucken. Tallinn wirkt so viel fortschrittlicher als Berlin. Arbeiten, Video-Calls in Cafés sind hier üblich. Überall bestes Wifi und Steckdosen. Selbst in der Straßenbahn. Ein Mann bestellt sich Wein zu seinem Businessmeeting mittags um halb eins. In Berlin Schilder in Cafés: „Laptop verboten.“ Deutsche lieben einfach Verbote. Back to the office. Für wie unmündig hält man uns?

Fotografiska Tallinn allein Reisen
Ausstellung im Fotografiska Tallinn
Foto von Elliott Erwitt

Der Geruch der Sowjetunion

Der Geruch der Sowjetunion habe sich seit dem Jahr 1972 in diesem Zimmer nicht verändert. Einer der finnischen Architekten des Hotel Viru habe ihr das bei einem späteren Besuch in Tallinn erzählt, erklärt unsere Guidin mit lauter Stimme. Eine kleine, rundliche Frau mit strohblonden Haaren im mittleren Alter, die weiß, sich Gehör zu verschaffen. Ihr Englisch ist etwas kantig, ansonsten aber makellos. Zu fünfzehnt stehen wir in dem kleinen Abhörraum des KGB im offiziell nicht existierenden 23. Stock. Im Aufzug gibt es nur 22 Knöpfe. An der Tür heißt es in kyrillischen Buchstaben: Sdies nitschewo niet – das heißt so viel wie: „Hier gibt’s nichts zu sehen.“ Das habe man den Leuten erzählt, wenn jemand nach dem 23. Stock fragte. Die Radioanlagen mit tausend Knöpfen, die drei Telefone (eines davon mit direkter Verbindung in den Kreml), allerlei Abhörgerät, die mit rotem Leder bezogenen Stühle, der grüne Linoleumboden, muffiger Geruch, Luft zum Schneiden. Alles so, wie es die drei hier stationierten KGB-Offiziere zu Beginn der 90er überstürzt verlassen hatten.

Das Viru wurde Anfang der 70er in Tallinn erbaut, um westlichen Touristen das Geld aus der Tasche zu ziehen, die Sowjetunion von der besten Seite zu zeigen. Spa, Varieté, Casino, der beste Service und luxuriöse Zimmer. Nebenbei Informationen sammeln. Vom geheimen Abhörraum im 23. Stock aus wurden sämtliche Operationen gesteuert, Gäste und Mitarbeitende überwacht. Pläne zeigen welche Zimmer mit geheimen Mikrofonen und Kameras ausgestattet waren. Die Nebenräume leer, bis auf den verantwortlichen Agenten. Man sammelte Material, um zu erpressen. In der Bar platzierten übergelaufene Kellner spezielle Aschenbecher und Teller. Die ganze James-Bond-Trick-Palette. Aufseherinnen an den Fahrstühlen in jedem Stockwerk – nur verheiratete Frauen mit Kindern durften diese Jobs übernehmen – führten Buch darüber, wer wann mit wem kam und ging. Türsteher an den Eingängen des Viru – ehemalige KGB-Offiziere und Soldaten der Roten Armee – sorgten dafür, dass es zu keinen Kontakten der Westler mit Estinnen und Esten kam. Falls doch mal ein unwissender Sowjetbürger, der aus dem Umland zu Gast in Tallinn war, dem Hotel zu nah kam, wurde er im Keller verhört und im schlimmsten Fall verhaftet.

„Eigentlich wusste es jeder, dass der KGB im Hotel war. Auch die Ausländer. Wir waren neidisch auf diejenigen, die im Viru arbeiten konnten. Sie hatten sogar Bananen und kamen, wenn sie es geschickt anstellten, an westliches Geld. Aber es war auch gefährlich. Sie standen immer unter Beobachtung. Durften sich keinen Fehltritt erlauben und konnten nicht Nein zum KGB sagen, wenn sie um Mitarbeit gebeten wurden. Wer sich weigerte, verlor im besten Fall seinen Job.“, spricht unsere Guidin über ihre Erfahrungen.

Das war die Normalität bis in die 90er hinein für einen Großteil der in Europa und Zentralasien lebenden Menschen, wenn man die Größe der Sowjetunion bedenkt. Für mich – 1994 in Südhessen geboren – unvorstellbar. Und doch sind Angst, Unterdrückung und Überwachung wieder Realität. Nicht nur für Menschen in Russland. Auch in dem Land, in dem die Freiheitsstatue steht: den Vereinigten Staaten von Amerika. Unsere Guidin betont am Ende der Führung, dass Estland nun frei sei, dass jeder willkommen sei, dass Freiheit das wichtigste Gut sei.

Im Abhörraum des KGB im 23. Stock des Viru Hotel
Auf der einst geheimen Dachterrasse des Viru Hotel

Ich bleibe beim Thema. Besichtige die ehemaligen KGB-Gefängniszellen in der Pagari-Straße. Unauffällig im Keller eines hübschen, pastellgrün gestrichenen bürgerlichen Wohnhauses. Hier wurde gefoltert und gemordet. Die Nazis trieben dort noch vor den Sowjets ihr Unwesen. Während ich in den engen, fensterlosen Zellen stehe, die Luft heiß und feucht, zu dick zum Atmen, frage ich mich, wer diese Menschen waren. Wie sie tickten. Über drei der KGB-Offiziere, die hier unten ihr grausiges Werk verrichten, gab es Infotafeln – Familienväter: Beruf Mörder und Folterknecht. Wie kann das sein? Männer mit zwei Gesichtern.

Tallinn Estland Allein-Reisen KGB Prison Cells
Ehemaliges KGB Gefängnis in der Pagari Straße

Endlich hört es auf zu regnen. Mich zieht es ans Meer. Der Blick in die Unendlichkeit. Heute grau in grau. Trotzdem schön. Der nächste Ort des Grauens: Patarei Prison. Bedrohlicher Klotz an der Ostsee. Doppelt vergitterte Fenster, Putz, der bröckelt. Politische Gefangene wurden hier festgehalten. Monatelang. Wieder herauskamen die wenigsten. Wieder wechselten sich Sowjets und Nazis mit der Nutzung des Gebäudes ab. Für 1.200 Gefangene war das Gebäude ausgelegt. 1945 zu Beginn der zweiten Sowjetokkupation Estlands waren es über 4.000. Die Zustände, die dort geherrscht haben, sind kaum vorstellbar.

Als ich vorsichtig durch eine offene Tür in den Innenhof des Komplexes trete, ist es bereits halb zehn am Abend. Zwar ist es noch taghell, doch weit und breit ist kein Mensch zu sehen. Ich weiß nicht einmal, ob ich hier sein dürfte. Spüre Panik aufsteigen. Was, wenn jemand die Tür schließt, durch die ich hereingekommen bin? Ich haste über den Hof, die dreistöckigen Gebäude rechts und links von mir werfen dunkle Schatten. Die rostigen Gitter an jedem der kleinen Fenster wirken bedrohlich. Ich atme erleichtert aus, als ich auf der gegenüberliegenden Seite eine weitere offene Tür entdecke, und eile hindurch, zurück in die Sonne. 2026 soll hier ein Museum entstehen, das sich mit den Verbrechen des Sowjetkommunismus auseinandersetzt. Noch immer ranken sich viele Geheimnisse um das, was in Patarei geschehen ist.

Weiter an der Ostsee entlang nach Linnahall. Dem ehemaligen „Lenin-Palast für Kultur und Sport“. Der brutalistische Betonklotz wurde für die Olympischen Spiele in Moskau 1980 erbaut. Immerhin hat man von dort oben eine tolle Aussicht auf das Meer. Und Schande über mein Haupt, aber ich feiere diese Bauten.

Der Linnahall Komplex - ehemaliger Lenin-Palast für Kultur und Sport

Fühlen wie Hemingway

Allein durch die Altstadt wandern. Reisegruppen ausweichen. Aus dem Staunen nicht mehr rauskommen. Die Alexander-Newski-Kathedrale, die orthodoxe Schönheit, zwischen mittelalterlicher Burgmauer, Gildenhäusern, katholischen Kirchen. Alles in Pastelltönen gehalten. Ausblick vom Domberg. Ziegelrot, dahinter das tiefe Blau der Ostsee. Das Sõprus-Theater, heute ein Kino. Grauer Sowjet-Klassizismus, der nicht recht ins Stadtbild passen will und doch vervollständigt. Zu Mittag gehe ich russisch essen. Pelmeni mit Meerrettichsauce. Wurde noch nie mit „My Lady“ angesprochen. Der russisch sprechende Kellner versäumt keine Gelegenheit dazu. Allein essen gehen ist nicht das Schlechteste. Leute gucken und sich umschmeicheln lassen.

Tallinn Estland Allein Reisen Altstadt
Durch Tallinns wunderschöne Altstadt spazieren

Am Abend werde ich wehmütig. Jedes händchenhaltende Pärchen versetzt mir einen Stich. Es erfordert Kraft, stets mit sich allein zu sein. Ständig die eigenen Gedanken zu hören. Alles alleine entscheiden. Über etwas lachen und mit niemandem teilen können. Will mich nicht allein fühlen. Worauf habe ich Lust? Ganz ehrlich? Ein Glas kühlen Weißwein. Allein in eine Bar? Klar, was soll’s. Denke an Hemingway. Finde ein französisches Bistro in Telliskivi. Setze mich in die Sonne, bestelle einen Chardonnay. Zart wie Seide zergeht er auf der Zunge. Zücke mein Notizbuch und beobachte. Zwei junge Frauen am Nebentisch sprechen Russisch. Ebenfalls Weißwein, unsere einzige Gemeinsamkeit. Hohe Wangenknochen unter großen Sonnenbrillen. Unterarme halb so dick wie meine, jede Sehne zeichnet sich blau auf der hellen Haut ab.

Ich genieße den konsonantenreichen Klang der russischen Sprache. Viele sagen, die Sprache klinge hart. Aber das ist sie nicht. Ein sanftes Rollen hier, ein zartes Zischen da. Vokale, die im Rachen entstehen, den ganzen Mund ausfüllen, bevor sie auf schmalen Lippen sichtbar werden. Schäme mich nicht fürs Beobachten. Freitagabend in einem Bistro, mein Gegenüber ein Glas Wein. Fühle mich herrlich exzentrisch. Wie Hemingway. Nicht mehr allein. Dafür frei.

Allein Reisen Tallinn Estland
Einen Chardonnay im Frenchy Bistro in Telliskivi

Strandbad mit Sowjetflair

Die Sonne gibt sich heute nach den vergangenen Regentagen besonders Mühe. Der Himmel strahlt mit der Ostsee um die Wette. Gleich drei Kreuzfahrt-Dampfer liegen heute zum Sonntag vor Anker, die Fähren nach Helsinki fahren im Akkord. Ich entfliehe der Stadt, den Reisegruppen. Mit dem Bus immer am Meer entlang nach Maarjamäe, zu Deutsch Marienberg, umgangssprachlich Orlovi. Wieder treffen estnische, deutsche und russische Geschichte aufeinander. Im 19. Jahrhundert befand sich hier eine deutsche Zuckerfabrik, später eine Alkoholfabrik der Familie Rotermann. Die russische Grafenfamilie Orlow ließ sich Schloss Maarjamäe als Sommerresidenz mit Ostseeblick erbauen, und Schriftsteller Nikolai Karamzin lockte die Künstler des russischen Reiches mit einem literarischen Salon. Später wurde es Heimat der estnischen Luftwaffe und zuletzt der Roten Armee.

Heute ein beliebtes Ausflugsziel für Esten, Russen und Touristen und eine der zentralen Gedenkstätten für die Opfer des Sowjetkommunismus in Estland. Auch für die Abwehrschlacht 1944, die Esten und Deutsche gemeinsam gegen die rote Armee fochten, gibt es Denkmäler. Dezente Tafeln und weiße Kreuze, die mit der in frischem Grün erstrahlenden Natur verschmelzen. In Sichtweite zum Meer. Ein schöner Ort des Gedenkens. Das Ehrenmal für die Rote Armee hingegen wird protzig-grau dem Verfall überlassen.

Tallinn Estland Allein Reisen
Denkmäler an die Opfer des zweiten Weltkrieges in Maarjamäe

Mein Ziel jedoch ist der Friedhof der Sowjet-Denkmäler. Stalins, Lenins und andere, übergroß in Bronze verewigte Sowjets, wurden nach der Unabhängigkeit Estlands 1991 im ganzen Land von ihren Sockeln gerissen, irgendwo abgeladen. Out of sight, out of mind. Das estnische Geschichtsmuseum fasste sich in den letzten Jahren ein Herz, kaufte sie auf und ließ sie hier wieder aufstellen. Für Verrückte wie mich. Lenin scheint eindeutig am beliebtesten gewesen zu sein. Stehe vor seinem Kopf, der mir fast bis zur Brust geht. Genosse Stalin ist am größten. War er doch in Wirklichkeit ziemlich klein. Viele Tyrannen waren und sind ziemlich klein. Napoleon-Komplex.

Tallinn Estland Allein Reisen
Friedhof der Sowjet-Statuen - Lenin in Denker-Pose

Ich verlasse den Park und gelange in ein Wohnviertel. Villen hinter mit Überwachungskameras gespickten Mauern, hölzerne Wohnhäuser mit großen Gärten. Ein hübscher Collie stürmt an den Zaun und bellt, zwei Nachbarn unterhalten sich. Die estnische Flagge vorm Haus. Auf einem Fußballplatz geht es hoch her, Läufer drehen ihre Runden auf der Tartan-Bahn. Normales Leben neben so viel Geschichte. Runter ans Wasser. Auch hier schreit mir die Geschichte dieses Landes förmlich entgegen. Strandhotel aus grauem Beton. Verlassen, brutalistisch, hässlich. Daneben ein Yachthafen. Beides Überbleibsel der Olympischen Spiele 1980 in der Sowjetunion. Hier in Maarjamäe fanden die Segelwettkämpfe statt. Im Schatten dieses reizvollen Schandflecks von einem Hotel finde ich ein kleines Café. Unter Sonnenschirmen am Hafen wird ein Junggesellinnenabschied gefeiert. Typen am Nebentisch bestellen sich gleich mehrere Biere auf einmal, ziehen auch noch ihr Shirt aus. Wäre besser für alle, wenn sie es anlassen würden. Was soll’s, ich brauche dringend einen Kaffee.

Merke, wie das Gefühl des Alleinseins aufkommt. Rufe Yannik an. Er sagt, ich solle es mir schön machen. Gesagt, getan. Marschiere weiter zum Pirita-Strand. In meinem Lonely Planet heißt es, es sei der schönste Strand Tallinns. Let’s see. Ich stöpsle mir meinen Lieblingsreisepodcast ins Ohr. Ein Unterwasser-Archäologe erzählt von Tauchgängen in Grönland und Wikingerschiffen. Genieße die Sonne, die frische Meeresluft, das Kreischen der Möwen, den Blick auf Tallinns einzigartige Skyline in der Ferne. Links moderne Hochhäuser, rechts die Türmchen und Spitzen der mittelalterlichen Altstadt, davor die Kreuzfahrtschiffe. Amtssprache am Strand bei Jung wie Alt ist Russisch. Man spielt Volleyball, isst Pizza, einige Mutige stürzen sich in die Fluten. Weiter unten steht ein weiterer grauer Hotelklotz am Strand. Vermutlich auch verlassen. Sogar Lifeguards à la Baywatch gibt es – er in roter Badehose muskelbepackt mit breitem Rücken, sie blond und schlank in rotem Badeanzug. Falscher Film!

Strandbad Pirita Tallinn Estland
Der Strand von Pirita

Die Dame von Schloss Kadriorg

Einmal fühlen wie eine edle Hofdame, oder gleich die Zarentochter höchstselbst? Im Kadriorg-Park geht es. Flanieren auf geraden Kieswegen, das Sonnenlicht sanft durch das helle Grün hoher Eichen gefiltert. Strahlend weiße Gänseblümchen auf den weiten Rasenflächen scheinen nur für mich zu blühen. Vögel singen, Springbrunnen plätschern. Eine kühle Brise, die vom Meer heranweht, streicht mir über Wangen und Haar. Die Allee lichtet sich. Vor mir nun das ehemalige Zarenschloss Kadriorg. Ein kleines Versailles – nicht so protzig – perfekter Barockstil in Rot und Gelb.

 Wunderschön, genau richtig, denkt die Dame von Kadriorg, die sich nun elegant auf einer weißen Holzbank im symmetrisch angelegten Garten hinter dem Schloss niederlässt und eben jene Zeilen schreibt. Denn so etwas tun Damen nun mal. Den schönen Künsten nachgehen. Die Bepflanzung des Gartens ist ganz in den Tönen eines Sonnenuntergangs gehalten. Eine märchenhafte hundertjährige Eiche spendet Schatten. Ich stelle mir das Schloss an lauen Sommerabenden vor langer Zeit vor: Die Laternen auf den Balkonen verströmen sanftes Licht. Der Glanz der Kronleuchter im Inneren funkelt mit seidenen Kleidern und edlen Geschmeiden auf weißer Haut um die Wette. Kristallgläser klirren, Männerstimmen lachen. Sehnsüchtige Blicke, vorsichtige Berührungen. Alles umgeben von einer samtenen Nacht, die Heimlichkeiten schluckt, die Realität verschwimmen lässt.

Tallinn Estland Allein Reisen Schloss Kadriorg
Das wunderschöne Schloss Kadriorg

Ausflug nach Tartu – Vom militärischen Sperrgebiet zur europäischen Kulturhauptstadt

Eigentlich wollte ich nach Narva. An die östliche Außengrenze der EU. Russland im wahrsten Sinne des Wortes nur einen Steinwurf entfernt. Zwei Festungen stehen sich dort gegenüber. Eine auf estnischer, eine auf russischer Seite. Die Menschen in Narva sind größtenteils ethnisch russisch. Viele von ihnen sollen die grauen Pässe haben, sind damit keine vollwertigen estnischen Staatsbürger. Sie sprechen kein Estnisch. So sehr es mich fasziniert hätte, Russland so nah zu sein, so sehr mich Grenzen anziehen, ich konnte mich nicht dazu durchringen. Zu viele Kriege, zu viel Hass auf das russische Regime – nicht auf die russische Bevölkerung – schwelt in mir. Angst vor möglichen Putin-Freunden in Narva. Deshalb wurde es Tartu.

Drei Stunden hochmoderne und pünktliche Zugfahrt – das muss man als Deutsche ja immer dazu sagen – entfernt, entpuppt sich Tartu als Bilderbuchstädtchen, das sich gerade besonders Mühe zu geben scheint, um mir zu gefallen, und alle Zweifel, ob ich die richtige Wahl getroffen hatte, verfliegen lässt. Ich verlasse das hübsche hölzerne, saubere Bahnhofsgebäude und schlendere auf ebenso blitzblanken Straßen, gesäumt von hölzernen Häusern mit verzierten Giebeln, Richtung Altstadt. Kaum zu glauben, dass das hier eine Studentenstadt ist. Es ist fast idyllisch. Die Universität von Tartu ist die älteste in ganz Estland und genießt einen hervorragenden Ruf.

Tartu Estland Allein-Reisen
Tartu ist die europäische Kulturhauptstadt 2024
Tartu Bahnhof Estland Allein-Reisen
Der Bahnhof von Tartu

Es ist Montag und überall scheint Musik zu sein. Vor den Kirchen bauen sich kleine Blaskapellen auf. Immer wieder hasten hübsche Menschen in Anzügen und eleganten Kleidern mit großen Blumensträußen in der Hand an mir vorbei. Gesang und Brass-Sounds ziehen mich auf den malerischen Rathausplatz Tartus. Zwischen dem hellrosa Rathaus aus dem 18. Jahrhundert und der Skulptur der Küssenden Studierenden bietet sich mir ein wundervolles Bild. Links singt ein hochmotivierter Polizeichor aus voller Kehle, rechts spielt eine Schulband, und dazwischen drehen sich junge Frauen und Männer in Tracht zu den volkstümlichen Melodien.

Die Musikwissenschaftlerin in mir jubiliert. Ich liebe traditionelle Tänze. Wenn der Tanz, wenn jede Bewegung noch einen Sinn, eine Bedeutung hat, eine Geschichte erzählt. Die blauen Röcke der Mädchen bauschen sich auf, lange blonde Haare fliegen, während sie sich auf ihre Partner zudrehen, elegant wieder ein Stück wegschreiten. Er stets einen Schritt hinter ihr, große Gesten, umschmeichelnd. Die Männer treten aus dem Kreis, vollführen unter lautem Rufen tollkühne Sprünge. Ich kann den Blick nicht abwenden. Außer mir erkenne ich keine weiteren Touristen. Stattdessen verweilen Passanten, filmen und klatschen. Irgendwann gehe ich weiter. Die Altstadt ist wie leergefegt, dabei reiht sich ein Café ans andere.

Tartu Estland Allein Reisen Volkstanz
Tanz und Gesang auf dem Rathausplatz

Da – schon wieder Musik. Diesmal Klavier, dramatische Melodien. Vielleicht Tschaikowski oder Beethoven? Ich folge den Klängen, stolpere über das Kopfsteinpflaster dahin, weil ich den Blick nicht von den Fassaden der entweder klassizistischen oder hölzernen estnischen Häuser lassen kann. Alles in leichten Pastelltönen. Die Musik führt mich schließlich zum weiß-goldenen Hauptgebäude der Universität Tartu. Der prunkvolle Säuleneingang zeugt von seinem Erbauer Zar Alexander I. Nun weiß ich, warum kein Mensch auf den Straßen unterwegs ist: Abschlussfeier an der Uni. Ganz Tartu scheint hier versammelt zu sein. Elegant in Abendgarderobe, die Blumen häufen sich. Bin underdressed und mache schnell wieder kehrt.

Mit einem Frappée in der Hand, der Sonne im Gesicht, mache ich mich nun auf den Weg über den Fluss Emajōgi. Es soll dort einen Friedhof Altgläubiger geben und natürlich das Estnische Nationalmuseum auf einer ehemaligen sowjetischen Militärbasis. Yay, jetzt jubelt die Historikerin in mir! Von der breiten Hauptstraße, gesäumt von Plattenbauten, folge ich dem Navi auf dem Handy in eine schmale Seitenstraße. Kleine Holzhäuser mit großen Grundstücken. Mit einem Mal ist es ruhig. Irgendwo wiehert ein Pferd. Die Altgläubigen sind eigentlich russisch-orthodoxe Christen, die sich im 17. Jahrhundert gegen die Reformen der orthodoxen Kirche gestellt haben. Sie wurden verfolgt und in abgelegene Teile Russlands oder in angrenzende Länder vertrieben, wo sie ihre eigenen Gemeinden gründeten.

So sind die verwitterten Gräber des Friedhofs geschmückt mit dem Kreuz der Altgläubigen, das drei Querbalken trägt. Der Friedhof liegt in einem kleinen Wäldchen. Gruselig. Ich traue mich nicht, ihn zu betreten, und habe das Gefühl, dass man mich beobachtet. Die hölzernen Fensterläden am Haus hinter mir klappern verdächtig. An den Friedhof der Altgläubigen grenzt ein jüdischer Friedhof. Die Gräber sind von dunklem Moos bewachsen. Dazwischen wuchert Unkraut. Jüngere Grabmale erkenne ich nicht. Es scheint, dass sich hier niemand mehr um die Gräber kümmert. Während des Zweiten Weltkrieges erklärten die Nazis Estland als einziges Land für „judenfrei“.

Das Stadtbild wird nun weiter, offener. Moderne, mehrstöckige Wohnhäuser, sogar Frisbee-Golf. Dort, wo einst militärisches Sperrgebiet war. Das Estnische Nationalmuseum steht als Verlängerung der alten Startbahn eines Militärflughafens. Rostiger Stacheldraht am Straßenrand wird überwuchert von violetten Stauden. Zumindest hier siegt Schönheit und Sanftheit über Schrecken und Gewalt.

Tartu Estland Allein Reisen
Die Natur in Tartu holt sich ehemaliges militärisches Sperrgebiet zurück

Den letzten Tag der Freiheit

Der letzte Tag einer Reise ist immer etwas Besonderes. Der letzte Tag an einem Ort, den ich vielleicht nie mehr besuchen werde. Noch einmal alles aufsaugen, nicht loslassen wollen. Noch nicht an Zuhause denken wollen. Hätte ich nur… habe ich alles genug genossen? Schluss damit. Es war gut, so wie es war. Auf einmal bin ich mehr im Moment. Spüre, wie sich jetzt gerade das Licht verändert. Wie die Sonne versucht, sich ihren Weg durch die tiefhängende hellgraue Wolkendecke zu bahnen, die salzige Seeluft auffrischt. Sanfte Nebelschleier wabern weiß über der stahlgrauen Ostsee. Möwen schießen wie Pfeile durch die aufgewühlte Wasseroberfläche. Wellen brechen sich mit leisem Rauschen an den Kieseln zu meinen Füßen. Magisches, unendliches Meer. Nicht zurückwollen in den Alltag und gleichzeitig Freude auf genau das. Auch das Heimkommen ist Teil des Reisens. Vorfreude aufs Vertraute.

Matcha latte in Tallinn Estland Alleine genießen
Vorteil des Allein-Reisens: Abends um sieben Schokotorte und Matcha Latte

Dieser letzte Tag in Tallinn, begonnen an der rauen Ostsee, hätte perfekter nicht sein können. Den Morgen dem Notizbuch im Café verschrieben, den Mittag nochmal den schönsten Seiten der Altstadt und dem VABAMU Museum – dem Museum für Besatzung und Freiheit – gewidmet. Frühes Abendessen im russischen Restaurant: Pelmeni gefüllt mit Kartoffeln und Meerrettichsauce, dazu ein Glas Weißwein. Großartig! Und weil es noch so früh war, nochmal ins Café: Matcha Latte und Schokotorte um sieben Uhr abends. Sich fühlen wie Gott in Frankreich. Noch immer will ich nicht, dass der Tag endet. Es ist hell bis 23:00 Uhr. Wieder an die Ostsee, die warme Abendsonne spüren. Mein Blick bleibt am Patarei-Gefängnis hängen. Noch einmal schleiche ich um die schaurigen Gebäude herum. Will diesen Tag, diese Freiheit des Alleinreisens, an die ich mich erst gewöhnen musste, noch einmal voll auskosten.

Freiheit. Ein großer Begriff. Der Titel von Frau Merkels Biografie. Für die Esten – ganz ähnlich wie für Frau Merkel – scheint er alles zu bedeuten und für alle Menschen gleichermaßen zu gelten. Sie widmen ihm ein ganzes Museum. Das VABAMU zeigt die Besatzungsgeschichte Estlands, den Kampf um die Freiheit, der in der singenden Revolution 1991 mündete, aber auch den Balanceakt, den Freiheit bedeuten kann. Was machen wir mit unserer Freiheit? Was wollen wir eigentlich? Zuletzt mahnt es mit einer bedrückenden Ausstellung zum Ukraine‑Krieg, dass wir Freiheit nie als selbstverständlich wähnen dürfen.

Das Museum lebt von den Stimmen von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen. Zum Schluss erläutern Menschen aus Tallinn, was Freiheit für sie bedeutet. Die ruhige Stimme von Andrei ist mir besonders in Erinnerung geblieben. Er sei Weißrusse und es sei sein höchstes Privileg, hier in Tallinn in Freiheit leben zu können und die Freiheit zu haben, von dort aus für die Freiheit von Belarus kämpfen zu können. In Tallinn scheint es eine Art kollektives Bewusstsein oder Gedächtnis für die Freiheit zu geben. Ein Gut, das man zu lange vermisst hat. Es drückt sich in Wandtafeln, Plakaten und Schaubildern zur Singenden Revolution und zur Zugehörigkeit zu Europa, verteilt in der Stadt, aus – Ukraine‑Flaggen und Läden, die allerlei Anstecker, Aufkleber und weitere Souvenirs in Gelb und Blau verkaufen.

Auch das Privileg des Reisens hängt mit dem der Freiheit zusammen. Beides mit dem richtigen Pass, damit, zur richtigen Zeit, am richtigen Ort geboren worden zu sein. Immer noch. Leider.

Überall in Tallinn wird die Unterstützung für die Ukraine deutlich gezeigt

Über das Allein‑Reisen

Dem Alleinreisen werden in den sozialen Medien ja wahre Wunder nachgesagt. Alle selbsternannten Solo‑Traveller wirken immer happy, haben nie Heimweh, erleben die coolsten – aber wirklich die obercoolsten – Sachen, denn das geht nur alleine, und sind auf jedem Bild umringt von den neuen Besties, denn die gibt es ja auch nur auf Reisen. Der aufmerksame Beobachter wird feststellen: Moment, die Solo‑Traveller traveln gar nicht solo! Allein abreisen – und das war’s? Allein reisen ist also doch nur was für kontaktfreudige Hostel‑Peeps?

Ich bin keines von beidem. Allein heißt bei mir auch allein sein. Bin nicht der Typ, der von sich aus auf Menschen zugeht, und auch niemand, den Fremde unbedingt ansprechen wollen. Eine ehemalige Freundin sagte mir mal des Nachts in einer Mannheimer Bar, auf meiner Stirn klebe ein überdimensionales „Verpiss dich“-Schild. Würde lügen, wenn mich das damals nicht gekränkt hätte, doch heute ist es in Ordnung. Ganz ehrlich, ich bin sogar froh darüber.

Mich strengt es an, ständig von fremden Menschen umgeben zu sein, mich über Dinge zu unterhalten, die mich nicht interessieren – Smalltalk zu machen – über schlechte Witze zu lachen. Ich habe gelernt, dass diejenigen, die mich wirklich kennenlernen wollen (und die ich wirklich kennenlernen will) – zum Beispiel Yannik – dieses Schild im Handumdrehen abnehmen können. Das reicht mir. Mit zunehmendem Alter, mit fast 31, kann ich das mal sagen: Ich habe gelernt, gerne mit mir allein zu sein, es sogar als Geschenk zu betrachten. Viele können das nicht.

Allein zu reisen ist eine besondere, intensivere Art des Allein‑Seins und der Freiheit. Ich bin gezwungen, meine gewohnten Pfade zu verlassen. Höre ständig meine eigenen Gedanken, muss jede Entscheidung selbst treffen. Letzteres ist auch für mich nicht immer einfach gewesen. Doch ich werde besser. Es schadet nicht, zu wissen, was man will. Allein kann ich besser loslassen, mich in einen Moment fallen lassen. Einfach mal sein. Eine Stunde am Meer sitzen und einfach nur die Wellen hören und den Wind im Gesicht spüren.

Den Morgen im Café sitzen und nichts tun. Die chillige Musik und das Kleppern von Besteck wahrnehmen, das Quietschen des Milchaufschäumers, dem sanften, ungewohnten Klang der estnischen Sprache lauschen. Dinge, die ich in Begleitung nicht kann, gar nicht wahrnehme. Vor der Reise hatte ich mir Sorgen gemacht, wie es wohl sein würde, alleine in einem Restaurant oder gar einer Bar zu sitzen, ob ich mich das überhaupt trauen würde. Ich habe mich getraut – und es war wunderbar. Essen und Wein genießen. In meinem Tempo. Keine Konversation machen müssen. Und glaubt es oder nicht: Niemand schaute mich blöd an oder war verwundert, eine junge Frau alleine mit Wein und Pelmeni im Restaurant zu sehen. In Deutschland wäre es vielleicht anders?

Doch gleichzeitig fehlte mir etwas. Gemeinsam erfahren, gemeinsam lachen, gemeinsam erleben. Ist das nicht das Schönste am Reisen? Momente mit dem Lieblingsmenschen teilen? Gemeinsame Erinnerungen schaffen?

Keine Art zu reisen ist besser oder schlechter. Vielleicht komplettiert die eine die andere.

Sonnenuntergang über der Ostsee in Tallinn
Ein letzter Sonnenuntergang über der Ostsee vor Tallinn

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