Trekking im Kaukasus: Mestia!
Unterwegs im Reich der Swanen
Dawai! Dawai!
„Drink, drink! Dawai, dawai!“, ruft die blonde Hausherrin Larissa immer wieder energisch und presst uns abwechselnd Tassen mit diversen Flüssigkeiten an die Lippen. Hier geht es nicht etwa um ein wildes Saufgelage sondern eine Lebensmittelvergiftung, die uns das Abendessen der Guten beschert hat. Sie trifft keine Schuld, unsere deutschen Mägen sind einfach zu empfindlich für die frisch gesammelten Pilze, die ihr zahnloser Ehemann in die Suppe mauschelte.
Nun ist es drei Uhr nachts. Wir hängen erschöpft auf Plastikstühlen auf dem Balkon des einzigen Gasthauses in Khalde, irgendwo in den Bergen zwischen Mestia und Ushguli und bemühen uns vergeblich diverse Körperöffnungen unter Kontrolle zu halten. Der Sohnemann kommt. Er hat kleine Ampullen dabei mit russischer Aufschrift. „Dawai, dawai – is good!“, ruft er. Wir haben keine Kraft uns zu wehren, also schlucken wir brav auch diese Medizin. Ein Moment des Aufatmens.
Larissa hüllt uns in Decken, ihr Ehemann legt mir seine Weste um. Sie murmeln beruhigende Worte auf georgisch und russisch, streichen uns über die Wangen. Es ist einer dieser Momente, die es nur auf Reisen gibt. Die man nie vergisst. Wir sprechen keine gemeinsame Sprache, es ist mitten in der Nacht, ganz zu schweigen von der Schweinerei, die wir im Flur und auf den Toiletten hinterlassen haben – und doch behandeln uns Larissa und ihre Familie wie ihre eigenen Kinder.
Das ist das vorzeitige Ende unseresTrekkings im Kaukasus. Doch trotz der unappetitlichen Umstände, trotz der Anstrengungen, des Gefühls der Überforderung, des Nichts-mehr aufnehmen-Könnens ist es ein versöhnliche Ende. Erschöpft und ausgelaugt blicken wir mit einem leichten Lächeln aus dem Fenster des Jeeps in dem uns der Sohnemann am Morgen nach der verhängnisvollen Nacht persönlich nach Mestia befördert. Dort hatte unser Abenteuer im Reich der Swanen vor vier Tagen begonnen.
Mit dem Zug nach Zugdidi
Fünf Tage zuvor: Abschied von Tbilisi. Gott sei Dank. Abgase, Feinstaub und Hitze schlagen aufs Gemüt. Mit der stets rasenden, klappernden Metro zum Hauptbahnhof. Wir sind 40 Minuten zu früh, doch der Bahnsteig ist bereits voll mit Reisenden nach Zugdidi. Von dort aus werden wir unsere Fahrt nach Mestia mit der Marschrutka fortsetzen. Zugdidi liegt weit im Westen des Landes, nahe der Grenze zu Abchasien und ist mit ca. 43.000 Einwohnern die siebtgrößte Stadt Georgiens. Für die meisten Touristen ist Zugdidi nur Durchgangsstation nach Mestia, Kuttaissi oder Batumi am schwarzen Meer, sodass es weitaus authentischer daherkommt als Tbilisi. Dies hat zur Folge, dass wir bei unserem kurzen Spaziergang dort – vom Bahnhof zum Botanischen Garten – mit unseren klobigen Wanderschuhen und Rucksäcken auffallen wir bunte Hunde.
Mit lautem Quietschen fährt der Zug ein. Die Türen öffnen sich synchron und adrette Schaffnerinnen in Kostüm und mit Klemmbrett treten hinaus. Pass und Ticketkontrolle. Alles hat seine Ordnung. Das saubere, klimatisierte Gefährt ist eine Wohltat. Auf die Sekunde pünktlich heißt es Abfahrt. Endlich sich um nichts kümmern müssen. Fünf Stunden lang aus dem Fenster schauen, lesen.
Im Schritttempo rattern wir durch mal grüne, mal karge Landschaft. Immer wieder ziehen halbzerfallene Fabrikgebäude und Siedlungen an uns vorbei. Von den Balkonen der grauen Plattenbauten flattert bunte Wäsche. Güterzüge mit rostigen Gazprom Behältern passieren uns. Wir befinden uns auf der Strecke Richtung Moskau. Von Moderne, Aufbruch und Vielfalt wie in Tbilisi, ist hier keine Spur. Die winzigen Dörfer und Siedlungen – wohl einst als Industriestandort gegründet – scheinen nun vergessen, sich selbst überlassen. Sowjet-Nostalgie trübt die Luft.
An jedem Bahnhof gibt es einen fünfminütigen Stopp zum Rauchen und Essen kaufen. Kühe und Hunde nutzen die Gelegenheit um vor uns über die Gleise zu hoppeln. Viele der Bahnhofsgebäude zeugen von den alten, den besseren Zeiten. Wuchtige klassizistische Bauwerke mit Säuleneingängen tragen noch ihre kyrillischen Namen. Davor sitzen wie bestellt ein paar Männer in Plastiklatschen auf Plastikstühlen. Warten sie auf eine bessere Zukunft?
Auf die Sekunde genau scheuchen die Schaffnerinnen dann alle wieder in den Zug. Wer während eines Stopps die Zugtoilette benutzen möchte, wird mit energischem Zischen und dem bösen Blick verscheucht. Der Grund? Betätigt man den Hebel, der im Boden neben dem Stahlklo eingelassen ist mit dem Fuß, so öffnet sich eine Klappe und die Kloschüssel gibt den Blick nach draußen, auf die Gleise frei.
Das Highlight in unserem Abteil ist ohne Zweifel der Snackautomat. Dort trifft man sich. Die coolen Kids in Jogginghosen hängen ab, Kleinkinder stehen schreiend davor und zerren an den Kleidern ihrer verzweifelten Mütter. Wir sitzen inmitten einer vierköpfigen britischen Familie. Sie sind mit einer internationalen Reisegruppe unterwegs. Ich beneide sie um ihre Gemeinschaft, ihren Guide, der ihnen nervenaufreibende, zweisprachige Diskussionen mit Marschrutka-Fahrern erspart. Vor allem aber neide ich ihnen ihr wunderbares, glasklares Oxford-Englisch. Einzig und allein His Majesty the King, beherrscht es besser.
Von wegen Dawai, Dawai! - Mit der Marschrutka nach Mestia
Ankunft in Zugdidi. Taxi hier Taxi da. Zum Glück finden wir schnell die richtige Marschrutka nach Mestia, die – Gott sei Dank – schon voller Wanderer und Backpacker sitzt. Wenn wir wüssten, dass uns statt drei, sechs Stunden in diesem Gefährt bevorstünden, wären wir wohl nicht so freudig eingestiegen. Mit diesen Marschrutkas, so günstig sie auch sind, ist es so eine Sache. Es gibt einen ungefähren Fahrplan, aber eigentlich geht es erst dann los, wenn jeder Platz besetzt ist. Gerade hat man uns – Dawai, Dawai – in den überhitzten Kleinbus gescheucht. Doch halt! Ein Sitz ist noch frei. Weiter warten, weiter schwitzen.
Nach einer gefühlten Ewigkeit schmeißt der beleibte Fahrer endlich seine aktuelle Kippe auf den Asphalt und startet laut fluchend den Motor. Wir rasen durch Zugdidi, nur um keine 15 Minuten später an einer Tankstelle zu halten. Die Deutsche in mir beginnt bereits zu murren. „Kann man das nicht vor Fahrtantritt machen?“ Die Tankstelle hat kein Benzin mehr. Gestikulieren, Diskussionen mit dem Tankwart.
Zehn Minuten später wieder Stopp. Diesmal gibt es Benzin. 15 Minuten später, wir haben den Ortsausgang noch nicht erreicht, halten wir an einem Supermarkt. „ Das kann doch nicht dem sein ernst sein!“, rufe ich schließlich genervt aus. Der Herr Marschrutka-Fahrer geht erstmal einkaufen. Achselzuckend folgt der halbe Bus seinem Beispiel. Aber dann endlich geht es mit Fullspeed hinauf auf die schmale Straße in die Berge.
Es ist seltsam. Hinterm Steuer heißt es hier immer: „Dawai, dawai!“ Es gibt nur Vollgas und Vollbremsung. Ganz egal, wie schmal die Straße, ganz egal, wie viel Verkehr. Doch sobald die Georgen ihr motorisiertes Gefährt verlassen, haben sie alle Zeit der Welt.
Wir kommen mit dem Backpacker vor uns, einem 22-jährigen Briten, ins Gespräch. Von London nach China will er. In vier Wochen hat er bereits ganz West- und Osteuropa bereist, so scheint es. Sportlich der Junge. Jetzt will er nach Russland(!). Dass es da womöglich Schwierigkeiten mit Visum und Grenzern geben könnte oder gar moralische Vorbehalte, jetzt – 2024 – nach Russland zu reisen, sieht er mal so gar nicht ein. 22 müsste man nochmal sein. Alles leicht nehmen. Ja keinen Rat annehmen.
Plötzliche Vollbremsung, wildes Hupen. Mitten in einer engen Kurve. Vor uns steht bereits eine ganze Autoschlange, einige Fahrer und Passagiere schlendern auf der Straße herum. „Ein Unfall!“, schießt es mir durch den Kopf. „Einer von diesen Rasern hat die Kurve nicht gekriegt.“ Dies scheint bei dem Fahrstil die naheliegendste Vermutung. Doch es ist nur eine Baustelle.
Ein Teil der Straße ist weggebrochen und nun stehen sich zwei Betonmischer gegenüber, und junge Männer in Jeans, T-Shirt und Chucks turnen ungesichert am Abgrund herum, um den flüssigen Beton an die richtige Stelle zu befördern. Eine halbe Stunde, dann könne sich der Verkehr auf der verbliebenen Fahrbahn am Abgrund vorbei quetschen. Beruhigend. Das Spiel sollte sich noch zweimal wiederholen, bis wir schließlich mit Einbruch der Dunkelheit in Mestia einfahren.
Blick nach Westen
Mestia ist ein 2000 Seelen-Ort auf 1500 Meter Höhe inmitten des Kaukasus. Wegen der 42 noch erhaltenen swanetischen Wehtürme gehört das Verwaltungszentrum der Region Oberes Swanetien zur Weltkulturerbeliste der UNESCO. Jetzt, am frühen Abend, herrscht noch geschäftiges Treiben auf der von brüchigem Asphalt bedeckten Hauptstraße. Neben Kleinbussen und klapprigen Autos tummeln sich dort streunende Hunde und die ein oder andere Kuh, auf ihrem Weg in den heimischen Garten. Deutsch ist hier die häufigsten Sprache unter den Touristen.
Anfang der 2000er Jahre hatte die georgische Regierung viel Geld in Mestia investiert. So etwas wie Alpentourismus sollte zwischen den Wehrtürmen der Swanen entstehen. Dann ging die Kohle aus. Auch EU Gelder sind hier schon geflossen, wie Wandtafeln stolz verkünden. So luken zwischen den Wehrtürmen halbfertige Alpenhäuser mit ihren dunklen Holzbalkonen hervor. Fehlen nur die roten Geranien. Im Wind flattern die blau-gelben Flaggen der EU und der Ukraine. Im Café Layla tragen die Kellner Shirts mit dem Aufdruck „20 % of my Country is occupied by Russia.“
In Mestia passt man sich an die Geldgeber aus dem Westen an. Anstatt russisch wird englisch gesprochen. Es gibt fancy Cafés mit Frappees und Avocado-Toast, deren Preise sich nur Europäer leisten können, an der Marschrutka-Station werden Tickets verkauft und alles geht einigermaßen Dawai-Dawai. Zugegeben es tut gut. Das deutsche Hirn kann sich endlich erholen. Eindrücke verarbeiten und kurz auf Urlaub schalten. Aber nur kurz. Schließlich sind wir zum Trekking im Kaukasus hier.
Die schroffe Schönheit des Kaukasus
Mit dem Hatsvali Skilift gleiten wir hinauf hoch über Mestia. Wir wollen uns mit einer kurzen Wanderung auf das bevorstehende vier Tages Trekking von Mestia nach Ushguli einstimmen. Gleich neben dem oberen Ende des Liftes ist für die weniger wanderfreudigen Besucher eine große Hütte mit ausladender Panorama-Terasse platziert. Es würde nicht wundern, wenn man hier Kaiserschmarn und Marillenknödel serviert bekäme. Doch so weit geht der Mestia-Alpentourismus dann doch nicht. Schade eigentlich. Stattdessen beschallt eine riesige Box die übervolle Terrasse mit den aktuellen georgischen Charts. Im Winter geht hier wohl die Post ab. Eingekeilt zwischen zwei Reisegruppen aus Asien bestaunen wir kurz die Aussicht auf das wehrturmgespickte Mestia, dann müssen wir flüchten. Unser überreiztes Hirn sucht noch immer nach Ruhe.
Über grasbewachsene Pfade schlendern wir, mal bergauf, mal bergab, zu einer verlassenen Wetter-Station. Von hier aus blicken wir über winzige Dörfer hinweg in die Unendlichkeit. Auf weiße Flecken der Landkarte in unseren Köpfen. Auf Orte, die soweit weg, so unwirklich erscheinen. Die wir vielleicht nie werden entdecken können. Wir versuchen den 40 Kilometer nahen Elbrus im fernen Russland zu erspähen. Die Nähe zu Grenzen fasziniert mich. Unsichtbare Linien, die man nicht übertreten darf, wegen derer Kriege geführt werden, die das Leben von Menschen, die Geschichte eines Landes verändern, für immer prägen. Hier, zwischen Georgien und Russland, verläuft sie stets nahezu unerreichbar in Gipfelnähe, auf 4000 Meter Höhe.
Währenddessen strahlt die Sonne von einem azurblauen Himmel. Doch an den schneebedeckten Bergen vor uns türmen sich bereits dunkle Wolken auf. Der Kaukasus wirkt um einiges schroffer, wilder, undurchdringlicher als die vertrauten Alpen. Die von Gletschern und Schneefeldern zerfurchten Felsmassive mit den dunklen Wäldern zu ihren Füßen verbergen auch noch im gleißenden Sonnenlicht ihre Geheimnisse. Die weichen Vokale des Namens „Kaukasus“ allein verheißen schon Mystik.
Maria und der Wehrturm
Am Nachmittag besuchen wir – eher zufällig – einen der verbliebenen Wehrtürme. Wir folgen einem handgeschriebenen Schild mit der Aufschrift „Museum“ und finden uns in einem Garten vor einem dieser steinernen Ungetüme wieder. Der Familienvater hackt gerade Holz. „ Musei?“, fragt er grob auf Russisch, als er uns auf seinem Grund und Boden entdeckt. Leicht eingeschüchtert folgen wir der Richtung, die er uns mit seinem erhobenen Beil weist.
Im Wehrturm schlägt uns kühle, feuchte Luft entgegen. Ein etwa zehnjähriges Mädchen tritt mit vor dem Körper aneinander gelegten Fingerspitzen und professionellem Gesichtsausdruck auf uns zu: „ I am Maria and I am your Guide in the Tower.“, stellt sie sich in klarem Englisch vor. Wir sind leicht überrumpelt und folgen ihr in den Hauptraum des Turmes. „My family lives here since 900 Years. The Tower is 500 years old. Twenty people can live in the Tower. There they made fire. There only the father could sit. Because man were Boss…“, erklärt sie fachmännisch und flitzt von einer Ecke des Raumes zur nächsten.
In Swanetien und anderen abgelegen Regionen Georgiens ist es üblich, dass die Töchter weiterführende Schulen besuchen und zum Studieren nach Tbilisi gehen, während die Söhne als Arbeitskräfte in den Dörfern und Familienbetrieben gebraucht werden. Hoffentlich wird auch Maria diese Chance bekommen.
Nach unserer Tour bedeutet uns Maria den Wehrturm bis ganz nach oben zu erklimmen. Über wackelige, selbstgebaute Holzleitern zwängen wir uns durch immer schmälere Öffnungen von Plateau zu Plateau bis wir schließlich unter dem Dach des Turmes vor einer überdimensionalen georgischen Flagge stehen. Durch Schießscharten in den Wänden blicken wir über ganz Mestia. „Gut, dass wir hier in Georgien und nicht Deutschland sind,“ denke ich, während ich mir Putz und Gesteinsbröckchen aus den Haaren schüttle, die mir beim Klettern entgegen gebröselt waren. „In Deutschland wäre so ein Gebäude niemals zugänglich.“
Wieder im Erdgeschoss nimmt uns Marias Mutter im Empfang. „Gegen wen mussten sich Ihre Vorfahren denn hier verteidigen?“, möchte Yannik noch wissen. Die Frau schüttelt den Kopf und ruft nach ihrer Tochter. Die Zehnjährige spricht als einzige der Familie Englisch. „So, Russia think Georgia belong to them. They came here. So Swaneti-People went into Towers to hide and fight with…“. Just in diesem Moment führt ihr Vater vier weitere Touristen in den Raum. Hinter Maria fuchtelt ihre Mutter wild mit den Armen und ruft ihrer Tochter etwas auf georgisch zu.
Die bisher so souveräne Museums-Führerin hält sich kurz den Mund zu, grinst und wendet sich dann mit lauter Stimme den neuen Gästen zu. „There they made fire…“. Verwirrt hören wir uns nochmals an, wie man über dem Feuer Suppe kochte, bis schließlich klar wird, dass die zwei Paare, die uns nun freundlich zunicken, Russen sein müssen. Später vor der Tür erklärt uns Maria, dass sie deshalb nicht weiterreden sollte. Ihre Familie habe von dem Turm aus nämlich mit Steinen und Pfeilen gegen die Eindringlinge aus dem Nachbarland gekämpft. „But they,“ sie deutet zurück in den Hauptraum des Turmes „don’t have to know.“
Auch in Mestia verschmelzen Vergangenheit und Gegenwart, Tradition und Moderne, West und Ost zu einem faszinierenden, kaum zu fassendem Gebilde. Diejenigen, die bereit sind, sich dem zu öffnen, wird es ebenso sprachlos hinterlassen, wie es sonst nur die schroffe Schönheit des umliegenden Kaukasus zu schaffen vermag.
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