Warschau Polen Stadtspaziergang

Spaziergang durch Warschau - Polen
Paris des Ostens

Mir fällt auf Anhieb keine andere Stadt, kein Land, kein Volk ein, das mit einer solchen Regelmäßigkeit geschunden wurde wie Polen, wie Warschau. Warum? Die Lage war begehrt. Berge, Meer, die „Kornkammer im Osten“, all inclusive eben. Die Schweden, die Habsburger, die Sowjets und zuletzt die Nazis – alle kamen sie nach Warschau, um ihre blutroten Spuren zu hinterlassen. Spuren, die bis heute nicht verblasst sind.

Der blitzsaubere Schein von Warschaus herausgeputzter Innenstadt kann die Beklemmung, die ich als Deutsche dort zwangsläufig empfinden muss, nicht überstrahlen. Zu viel erinnert an die Taten unserer Vorfahren. Auch an diesem wunderschönen Ostermorgen. Die Luft scheint vom Klang der vielen Kirchenglocken, die die Auferstehung Jesu feiern, zu vibrieren. Die bunten Fassaden der Häuser leuchten mit den weißen Sonntagskleidern der Frauen und Mädchen um die Wette. Viele der Kleinen sind wie Damen herausgeputzt, mit Blumen im Haar und hübsch verzierten Osterkörbchen in den Händen.

Gegen das Vergessen

Wir entfernen uns von den seligen Kirchgängern. Wollen uns nicht schon wieder als ungläubige bzw. protestantische Touristen entpuppen, wie am Karfreitag. Interessiert waren wir einer Prozession durch die Altstadt gefolgt, versäumten es aber immer wieder, zum rechten Zeitpunkt in der Litanei vor dem Heiland auf die Knie zu fallen.

Etwas außerhalb des Altstadtglanzes, an einer breiten Straße vor dem Gebäude des Obersten Gerichts, verdunkelt sich der babyblaue Himmel plötzlich. Eine unbekümmerte Schönwetterwolke verdeckt die Sonne, lässt das bedrückende Denkmal des Warschauer Aufstandes von 1944 vor uns in angemessen düsterer Stimmung erscheinen.

Normalerweise mache ich mir nicht viel aus Denkmälern. Doch von diesem kann ich den Blick nicht lassen. Gesichter und Haltung der dargestellten Männer strahlen Mut, Würde und Entschlossenheit aus. Den Willen, alles zu tun für die Freiheit ihres Landes. Doch gleichzeitig werden sie überragt von gewaltigen, spitzen Pfeilern, gejagt von Soldaten in deutscher Uniform. Unterdrückung und Zerstörung.

Warschau Polen Denkmal Warschauer Aufstand
Denkmal des Warschauer Aufstandes von 1944 vor dem Gebäude des Obersten Gerichts

Nahezu ganz Warschau wurde in den 40er Jahren durch die Nationalsozialisten zerstört. Doch die stolze Stadt weigert sich, ihr Haupt vor „dem Führer“ zu neigen. Frauen und Männer formten den größten Aufstand Europas, kämpften mit allem, was sie hatten. Doch die Waffen-SS war unerbittlich. Im Spätsommer 1944 verloren fast 200.000 polnische Soldaten und Zivilisten ihr Leben. Als Denkzettel für das aufmüpfige Volk sprengten die Nazis das verbliebene Warschau weitestgehend in die Luft. Überlebende wurden deportiert. Das Motto der SS: Keine Überlebenden.

Die Wolke zieht schließlich vorbei und warme Sonnenstrahlen fallen auf das Denkmal. Ein Touristenschwarm aus Asien strömt heran. Wild und freudestrahlend werden Fotos geknipst. Mich bedrückt die Situation. Selfies vor einem Denkmal, das an den Tod einer ganzen Stadt erinnert? Herbeigeführt durch mein Volk. Ist es hochmütig, so zu denken? Vielleicht sollten wir auch Fotos machen. Gegen das Vergessen.

Von Geschichte und Gegenwart

Heute ist Hitler out in Warschau. „Der Nazi“ ist jetzt Putin – der Zar im Kreml, der mit der Welt Roulette spielt – russisches Roulette. In der malerischen Fußgängerzone drückt man uns eine Rolle Klopapier in die Hand. Geziert mit Wladimiers Konterfei, wie er hinter Gittern seiner wahrhaft beschissenen Zukunft harrt. Ich war schon immer ein Freund von Gerechtigkeit.

Am Nachmittag schlendern wir durch einen kleinen Park mit Teich. Das junge Grün der Bäume sprießt bereits. Osterglocken zieren die Rasenflächen. Die Warschauer flanieren an uns vorbei. Elegant gekleidete Pärchen Arm in Arm, Kinder mit ihren Osterkörbchen, einige am Telefon – vermutlich, um Ostergrüße zu überbringen. Läufer mit strammen Waden und engen Muscle-Shirts überholen uns.

Warschau Polen Spaziergnag
Warschaus blitzsaubere Altstadt am Morgen

Über den Bäumen des Parks ragen die reich verzierten Spitzen hübsch restaurierter Wohnhäuser in den Himmel. Die ganze Szene könnte auch in Paris spielen. Eine schlichte Eleganz, ein gewisser Flair wohnt dem Ganzen inne. Leicht hochmütig, aber unfassbar stilvoll. Das Paris des Ostens – wird Warschau manchmal auch genannt. Mit dem Unterschied, dass sich die Warschauer dazu herablassen, Englisch mit uns zu sprechen, wenn unser Polnisch nur für ein „Dzień dobry“ – guten Tag – reicht.

Ein Stück weiter, am Ende des kleinen Parks, lässt uns eine goldene Linie auf dem Boden innehalten. Namen und Daten sind in sie eingraviert. Wir stehen vor der Grenze des ehemaligen Warschauer Ghettos. 400.000 Menschen wurden dort zwischen 1941 und 1943 eingeschlossen. Die jüdische Gemeinde Warschaus wurde nahezu vollständig ausgelöscht. Mehr will ich dazu nicht sagen. Zu nichtig wären Worte im Vergleich.

Die Grenze des ehemaligen Warschauer Ghettos

Einige Straßenecken weiter schlägt uns eine Ausgeburt an Sowjetprotz entgegen. Kaum zu übersehen, prägt der Kulturpalast das Warschauer Stadtbild. Beliebt ist er nicht, der Turm, erinnert er doch an einen anderen ungeliebten Besatzer. Aber er hat was. „Ost-Charme“, wie man heute sagt.

Wir suchen Erholung von Geschichte und Altstadttrubel im Grün des ehemaligen Sächsischen Gartens. Einige der zahlreichen Holzbänke beglücken den Sitzenden mit klassischer Musik. Wir entscheiden uns für die Präludien von Chopin. Nicht weit von uns befindet sich das Grabmal des Unbekannten Soldaten am Piłsudski-Platz. Die symbolische Grabstätte erinnert an jene polnischen Soldaten, die im Ersten Weltkrieg im Kampf um die Freiheit ihres Landes gefallen waren.

Unter dem kleinen Säulengang brennen ewige Flammen, die Stahlgitter hinter dem Grabmal tragen die Symbole der beiden höchsten polnischen Militärorden. Zwei schmucke Soldaten halten reglos Ehrenwache vor dem Grabmal. Nur wenige hundert Meter von diesem erhabenen Bild entfernt dreht ein froschgrüner Lamborghini lautstark seine Runden.

Geschichte und Gegenwart greifen in Warschau auf besondere Weise ineinander. Es ist, als atme die Stadt die Geschichte, und doch ist sie in vielem so weit vorne. Hochmoderne, verspiegelt-glänzende Hochhäuser prägen die Skyline ebenso wie der sowjetische Kulturpalast.

Der Kulturpalast prägt die Warschauer Skyline

Europa beim Entenfüttern

Am Ostermontag fahren wir hinaus nach Wilanów. Ein bisschen Frischluft schnuppern, bevor es zurück ins postsowjetische Berlin geht. Das Barockschloss – auch als das polnische Versailles bezeichnet – war die Sommerresidenz polnischer Könige und wurde ab 1677 erbaut. Wir beschließen, das sonnengelbe Schloss lieber nur von außen zu bewundern und im idyllischen Schlossgarten zu entspannen. Auf den Parkplätzen am Schloss ist die Hölle los. Viele sind in Ausflugsstimmung – nicht nur Polen. Im Schlosspark sind die wohlbekannten europäischen Idiome zu vernehmen. Am Teich tummelt sich die Europäische Union zum Entenfüttern. Ein entspanntes Miteinander. Nur eine Landesgrenze entfernt steht die Welt in Flammen.

Polen ist für mich kein einfaches Reiseland. Schuldgefühle, zu viele offene Fragen aus meiner eigenen Familiengeschichte sind damit verbunden. Kann es nicht losgelöst von Geschichte und Politik betrachten. Und doch löst es eine unfassbare Sehnsucht in mir aus. Eine Sehnsucht, die mich immer wieder ostwärts treibt.

Warschau Polen Wilanow
Schloss Wilanow

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